Darf ich vorstellen? Mein Leben – die alte Baustelle

Ich habe gerade ungelogen eine halbe Stunde geheult. Richtig geheult. Dicke, runde Tränen habe ich vergossen und das volle 30 Minuten lang – ununterbrochen. Währenddessen hatte ich das Gefühl nie wieder aufhören zu können. Und gleichzeitig konnte ich nicht mal sagen, wieso ich überhaupt weinte. Kennt ihr das? Ihr ihr fangt plötzlich wegen irgendeiner Kleinigkeit an und während die Tränendrüsen so richtig schön angeregt sind, merkt ihr, dass ihr eigentlich schon gar nicht mehr wegen dieser Nichtigkeit weint, aber aus irgendeinem euch unerfindlichen Grund könnt ihr nicht aufhören?

Und plötzlich merkt ihr, dass diese Tränen gar nichts mit der jetzigen Situation oder dem aktuellen Geschehen zu tun haben. Der salzige Erguss aus eurem Oberstübchen hat nichts mit dem heutigen Tag, vielleicht nicht einmal etwas mit dieser Woche zu tun. Die Tränen, die ihr vergießt, sind alt. Quasi Tränen von gestern. Nur fühlen sie sich dadurch nicht besser an, sondern eher noch schlechter. Um nicht zu sagen, salziger.

Dabei hat alles so harmlos angefangen. Als ganz normaler, herkömmlicher, unspektakulärer Freitag. Freitag, der 12. Mai. Es ist nicht einmal Freitag, der 13. Nein, dafür hat es nicht gereicht. Das wäre natürlich perfekt gewesen. Aber an diesem Tag, dieser Woche, diesem Jahr ist eben rein gar nichts perfekt, sondern alles eher so mittel. Alles, aber auch wirklich alles ist in diesem Jahr eher so semi-gut. Um nicht zu sagen scheiße.

Um 6.30 Uhr an diesem Morgen klingelte mein Wecker, den ich naturgemäß geflissentlich ignorierte. Denn dafür sind Wecker schließlich da, richtig? Um 6.43 Uhr rief allerdings meine Tochter nach mir und Kleinkinder lassen sich schon schwerer ignorieren, vor allem, wenn sie 20 Monate alt und voller Tatendrang sind. Für sie kann der Tag im Grunde gar nicht früh genug beginnen. Und noch ehe die Windeln gewechselt und die Zähne geputzt waren, standen um Punkt 7 Uhr die Handwerker vor der Tür. Obwohl deren Auftauchen nach über einer Woche des Stillstandes auf ‚unserer‘ Baustelle – wie ich sie liebevoll nenne –  eigentlich ein Grund zur Freude sein sollte, versetzte mich das frühe Geklingel in einen latenten Zustand schlechter Laune. Okay, zugegeben, ich bin ein Morgenmuffel, und klingelnde Wecker und Bauarbeiter sowie schreiende Kinder machen das nicht besser. Aber an diesem Morgen war ich irgendwie besonders schlecht drauf. Was unter Umständen auch damit zu tun haben könnte, das vorgestern Abend unsere Heizung ausgefallen ist und wir seitdem kein warmes Wasser mehr haben, ergo auch nicht warm duschen können. Das ist aber halb so wild, da wir eh keine Dusche mehr besitzen.

Diese musste nämlich aufgrund eines riesigen Wasserschadens zum Anfang des Jahres abgerissen, trockengelegt und komplett neu aufgebaut werden. Und nicht nur die: Da das Wasser aus unserer damaligen Dusche nicht wie vorhergesehen im Abfluss, sondern in dem darunterliegenden Gäste-WC und den angrenzenden Wänden verschwunden ist, musste neben dem Badezimmer auch die Gäste-Toilette, der Flur, der Hauswirtschaftsraum, die Küche und eines der Schlafzimmer renoviert werden. Das ist vor allem deswegen so eine tolle Sache, weil wir erst im Dezember in dieses wunderschöne und damals gerade frisch renovierte Haus eingezogen sind und im Januar entstand dann eben jener Schaden, der aus diesem wahnsinnig schönen Gebäude eine wahnsinnig schöne Großbaustelle machte, die uns bis jetzt – dank Fachkräfte- und Handwerkermangel – auch noch fünf Monate später erhalten geblieben ist. Tja, ein Haus bauen kann ja jeder, eines nachhaltig abreißen sicher nicht. Von daher wundert mich eigentlich nichts mehr und ich nenne unsere Bleibe auch nur noch liebevoll: die Baustelle, in der wir wohnen.

Jedenfalls duschen wir seitdem nur noch in unserer Badewanne, die im Übrigen – neben der Spüle – auch das einzige Waschbecken ist, das uns erhalten geblieben ist. Das hat bisher auch ganz gut geklappt und würde wahrscheinlich auch noch eine Zeitlang funktionieren, wenn nicht mein Babybauch von Tag zu Tag größer werden und die Pechsträhne, die das Jahr 2023 offenbar für uns bereitstellt, endlich abreißen würde. Doch das tut sie nicht. Denn vorgestern ist – nachdem vor einigen Wochen auch noch der Backofen seinen Geist aufgegeben hat – die Heizung kaputt gegangen. Also haben wir nun kein warmes Wasser mehr. Und ich bin eben nicht nur ein Morgenmuffel, sondern auch ein Warmduscher. Also war es das erst einmal mit Duschen. Wurde eh immer enger mit meinen exorbitantgroßen Bauch in der immer kleiner werdenden Badewanne.

Zum Glück fahren wir aber heute in den Urlaub: Eine Woche Italien. Eine Auszeit, auf die ich mich schon freue, seit wir sie geplant haben. Leider nur ist der Zeitpunkt denkbar schlecht, denn aus irgendeinem Grund, ist das Wetter dort so mies, wie noch nie zu dieser Zeit. Ist das jetzt schon dieser gefürchtete Klimawandel, oder seit wann regnet es in Venedig mehr als in Hintertupfingen? Seit ein Blick auf die Wetter-App mir verraten hat, dass ich außer einer Mischung aus bedeckt und wolkig gepaart mit einer Regenwahrscheinlichkeit von 90% nicht viel erwarten darf, ist meine Vorfreude auf 10% gesunken. Und ich überlege erstmals in Zusammenhang mit einem geplanten Sommerurlaub, ob ich den Bikini nicht lieber zu Hause lassen – oder aus Versehen nach Berlin fahren sollte, denn da soll das Wetter ja demnächst Bombe sein. Da könnte ich dann auch meinen Bikini anziehen.

„Entschuldigen Sie, hätten Sie einen Besen für mich“, wurden meine tiefsinnigen Gedanken von einem der Bauarbeiter unterbrochen. „Bitte?“ Ich glaubte, ich hörte nicht richtig. Ich stand vor dem Badezimmer-Spiegel mit nichts als meinem Schlaf-T-Shirt und meiner Unterhose bekleidet und versuchte nicht in das Loch zu treten, das früher mal unsere Dusche war und er fragte mich, ob ich ihn mit Kehrwerkzeug ausstatten könnte. Ähm Verzeihung, aber ich bin seit 5 Minuten wach und versuche hier gerade auf mein Leben klarzukommen!

„Wir brauchen einen Besen!“, wiederholte er, in dem Glauben ich hätte ihn nicht verstanden.

„Und ich brauche eine warme Dusche oder überhaupt eine funktionierende Dusche oder wenigstens ein richtiges Dach über dem Kopf, in dem es auch Bodenbelag gibt und ein bisschen Privatsphäre vielleicht. Oder gleich ein neues Leben.“, hätte ich am liebsten geantwortet. Stattdessen fragte ich, ob es auch Handfeger und Schaufel täten und setzte meine Kontaktlinsen ein, damit ich auf dem Weg zum Hauswirtschaftsraum nicht wirklich noch in das Duschloch fiel. 

Während mein Mann auf der Arbeit war, kochte ich Kaffee für die Handwerker und beschäftigte mich mit meiner Tochter, die mit der Baustellensituation viel besser umgehen kann als ich. Selbst die lauten Kreischgeräusche der Sägen und Flex-Werkzeuge machen ihr inzwischen keine Angst mehr. Sie scheint sich inzwischen so sehr an die immer neuen Gesichter der Handwerker und die Rohbauatmosphäre gewöhnt zu haben, dass sie sich wahrscheinlich irgendwann fragen wird, warum die Häuser der anderen Kinder denn nicht auch in dem coolen Fabrikgeländelook gehalten sind und warum ihre Freunde nicht auch die Finger in der Spüle waschen.

Auf meinem Smartphone tippte ich Emails, denn zu meinem Laptop im oberen Stock hatte ich keinen Zugang, weil im Flur Fliesen verlegt wurden. Und sobald die Geräuschkulisse es zuließ, versuchte ich Telefonate zu führen, denn ob man es glaubt, oder nicht, ich habe tatsächlich auch noch so etwas wie einen Job und der erfordert ein Mindestmaß an Kommunikation – was mit einem Kleinkind in einer Großbaustelle sitzend nicht immer gegeben ist.

Als die akustische Baustellen-Untermalung im Flur kurz verstummte, suchte ich mir schnell eine günstige Stelle im Wohnzimmer, an der ich mit meinem Handy zumindest sporadischen Empfang hatte, denn unser Festnetz-Telefon ist (natürlich!) ebenfalls kaputt und mein Mann hatte mich gebeten für ihn bei der KfZ-Zulassungsstelle in Hamburg anzurufen. Ich sollte dort Bescheid geben, dass der Fahrzeugbrief, den er dort vor zwei Wochen beantragt hatte, um sein Auto abzumelden, das leider liegen geblieben war und nun verschrottet werden musste, nicht mehr benötigt wurde, da er wieder aufgefunden wurde. Und zwar im Handschuhfach meines Autos, das leider liegen geblieben war, als mein Mann vor zwei Wochen 500 Kilometer nach Hamburg gefahren war, um den Fahrzeugbrief für seinen kaputten Wagen zu beantragen. Und wie das Schicksal – oder der Zufall – es so wollte, fand sich eben jener verloren geglaubte Fahrzeugbrief beim Aufräumen meines Autos, das sich leider nach einem kurzen Werkstattaufenthalt als ebensolcher (wirtschaftlicher) Totalschaden herausstellte wie der Chrysler meines Mannes – im Handschuhfach wieder.

Nachdem ich der freundlichen Dame bei Zulassungsstelle in Hamburg den kompletten wie komplexen Sachverhalt geschildert hatte, wollte sie von mir das Kennzeichen wissen, um die Neubeantragung des Fahrzeugbriefes zu stornieren. Und genau in dem Moment setzte das ohrenbetäubende Gekreische der Säge im Flur wieder ein und meine Tochter entschied sich mir just im selben Augenblick mitzuteilen, dass der Stuhl in ihrem Puppenhaus kaputt gegangen ist (Natürlich!). Über die „Kaputt! KA – PUTT!“- Rufe meiner Tochter und das Getöse der Baustelle hinweg, schossen mir plötzlich die Tränen in die Augen und ich musste meinen Anruf unterbrechen. Nicht nur, weil ich keine Ahnung hatte, wie das frühere Kennzeichen meines Mannes lautete, sondern weil ich plötzlich das Gefühl hatte, dass ich keinen Moment länger die Realität leugnen und in diesem irrsinnigen Zustand von nicht vorhandener Normalität ein berufliches und privates Alltagsleben aufrechterhalten konnte, das so einfach nicht möglich war. Es war zu viel. Einfach zu viel! Der Baustellenlärm, das Weinen meiner Tochter, der kaputte Puppenstuhl, die kaputten Autos, die kaputte Heizung, die kaputte Dusche, das kaputte Haus, das kaputte Telefon, das kaputte deutsche Handynetz, mein kaputtes Leben. Überhaupt: Wie viel kann eigentlich in so kurzer Zeit, in einem einzigen Leben kaputt gehen? Das Jahr 2023 zählt gerade mal 5 Monate und ich verfüge schon über mindestens doppelt so viele Dinge, die in dieser Zeit kaputt gegangen sind.

Während ich noch immer das Handy in der Hand hielt und meine Tochter mich mit Plastikbällen aus ihrem Bällebad bewarf, begann ich hemmungslos zu schluchzen und mich selbst zu bemitleiden für die erbarmungswürdige Baustelle, die mich umgab und sich mein Leben nannte. Ein Gefühl der Schwere und gleichzeitigen Leere ergriff mich und ich spürte, dass ich einfach keine Kraft mehr hatte. Keine Kraft und auch keine Lust mehr auf endlose Telefonate mit unserer Vermieterin, der Sanierungsfirma, mit irgendwelchen Behörden und Zulassungsstellen, keine Lust mehr auf Estrich, Staub und Baulärm, auf Kindergeschrei und Schwangerschaftsübelkeit, auf zurückgehaltene Tränen und kalte Wut auf die Ungerechtigkeit der Dinge.

Warum immer ich, warum mein Haus, mein Auto, mein Backofen, mein warmes Wasser, dachte ich und fühlte wie ein roter Plastikball mich schmerzhaft an der Stirn traf. Was mich prompt noch mehr zum Weinen brachte. Wie bin ich eigentlich hierher geraten? Wo bin ich falsch abgebogen, dass mein Leben nur noch aus Defekten, Unannehmlichkeiten und Reparatur- und Aufbauarbeit zu bestehen scheint, fragte ich mich. Früher war ich mal ein echter Glückspilz. Es gab sogar Menschen, die meinten, ich hätte unverschämt viel Glück. Und ob sie nun Recht hatten oder nicht, eines stimmte zu Hundertprozent! Ich hatte Glück! Bei so vielem. Und jetzt scheine ich seit Jahren nur noch Pech zu haben. Vielleicht habe ich mein Glück einfach aufgebraucht, überlegte ich. Denn anders konnte ich mir nicht erklären, dass nicht nur kaputte Autos und undichte Duschen auf mich einprasselten, sondern auch Todesfälle im Freundes- und Familienkreis sich seit ein paar Jahren auf tragische Weise häuften. Und die Corona-Zeit hat mich – wie manch anderem – neben vielen Nerven auch (beinahe) meine berufliche Existenz gekostet.

Und genau diese berufliche Existenz sowie meine darüber hinausgehenden Ambitionen mich als Autorin selbst zu verwirklichen, versuche ich nun trotz Übelkeit, wachen Nächten bedingt durch kleine Tritte aus dem Bauch und großem Brüllen aus dem Kinderzimmer und übermüdeten Tagen aufrechtzuerhalten. Ich kämpfe darum trotz Wasserschaden, Baustellenlärm, inflationärer „Kaputtitis“, verrücktmachenden Behördengängen und dem ganz normalen Alltagswahnsinn mit meinem Sein als berufstätige Ehefrau und Mutter zu bestehen. Was nicht immer leicht ist und manchmal – vor allem an einem Tag wie diesem – unmöglich scheint. Dann fühlt sich mein ganzes Leben an wie ein einziges Scheitern. Nichts kann ich, nichts mache ich richtig. Ich kenne ja nicht mal das Kennzeichen meines Mannes auswendig. Ich bin eine schlechte Ehefrau, eine schlechte Mutter, eine schlechte Selbstständige, eine schlechte Autorin und überhaupt ein schlechter Mensch. Und jetzt bemitleide ich mich auch noch selbst – ich erbärmliches Stück Hoffnungslosigkeit. Es ist wahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit bis mein Auftraggeber merkt, dass ich eine Hochstaplerin bin, die nicht mal ein störungsfreies Telefonat führen kann, dass meine Freunde auf den Trichter kommen, dass ich ein Messi bin, der seine Umgebung nicht sauber hält und in einer Baustelle wohnt, dass mein Mann mich verlässt, weil ich nicht mehr dusche und meine Tochter merkt, dass ich eine schlechte Mutter bin, weil die anderen Kinder nie die Hände in der Spüle waschen müssen und es anderen Häusern auch so etwas wie Fliesen gibt.

Und plötzlich spürte ich wie eine kleine, warme Hand sich auf meine Schulter legte und meine Tochter ihr Gesicht an meine Wange schmiegte. Wir hielten einen Moment inne. Wange an Wange und als sie ihren Kopf wegnahm und mich mit großen Augen ansah, war ihr Gesicht nicht nur voller Mascara-Reste, sondern auch voller Zuversicht. „Mama, besssa?!“, fragte sie mich und ich lächelte.

„Ja, besssa.“, sagte ich und meinte es auch so.

Denn egal, wie viele Krisen wir noch erleben, wie viele Menschen kommen und gehen und viele Autos und Puppenstühle den Geist aufgeben werden – es gibt nichts, was ein bisschen Selbstmitleid, einige salzige Tränen und ein Paar unschuldige, zuversichtlich dreinblickende Kinderaugen nicht besser machen würden. Und – wenn auch nicht in Italien – aber irgendwann, irgendwo geht doch immer die Sonne auf J

Auf das Leben, die alte Baustelle;)

Eure Emma

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